Visseiro revolutioniert die Heimpflege – Interview mit Pirmin Kelbel

Visseiro revolutioniert die Heimpflege – Interview mit Pirmin Kelbel

Die Visseiro Gründer Pirmin Kelbel (links) und Janek Jurasch (rechts) | © Foto von Visseiro

In der dritten Folge des Hidden Champion Podcasts hatten wir Pirmin Kelbel zu Gast. Er hat das Startup Visseiro gegründet und möchte mit dem weltweit ersten pflegeunterstützenden Sitzkissen vor allem die Heimpflege revolutionieren. Er gibt spannende Einblicke in die Entwicklung seines Unternehmens, das dahinterstehende Produkt und hat wertvolle Tipps für Gründer.

Kannst du kurz erklären, was man sich unter einem smarten Sitzkissen vorstellen kann?

Das Sitzkissen ist im Grunde genommen wie ein ganz normales, aus Schaumstoff mit Textil drumherum. Aber in diesem Sitzkissen sind flexible Sensoren verbaut, die man sich wie Gel-Elemente oder Kühlpads vorstellen kann. Diese Sensoren können diverse Vital-Parameter erfassen, die wiederum Informationen darüber liefern, wie es der Person auf dem Sitzkissen geht. Die Visseiro-Technologie funktioniert ähnlich wie ein Stethoskop – ganz abstrahiert gesagt. Man muss sich ein ganz besonders sensitives Stethoskop vorstellen, das durch Textilien hindurch funktioniert. Mit Algorithmen können wir dort dann die einzelnen Informationen zur Gesundheit herausfiltern.

Welche Gesundheitsparameter können damit gemessen werden?

Wir betrachten die Gesundheitsparameter in zwei Kategorien. Zum einen schauen wir auf die tatsächlichen Messungen wie die Atemfrequenz, die Herz-Rate oder die Herz-Raten-Variabilität, die ein wichtiger Indikator für das Stresslevel ist. Außerdem messen wir die Bewegung und beispielsweise die Feuchtigkeit, die besonders relevant bei einem Inkontinenzproblem ist.  

Zum anderen schauen wir uns diese Informationen über einen längeren Zeitraum an. Das können mehrere Tage, Wochen oder sogar Monate sein. Denn dann kann man frühzeitig sehen, wenn sich der Gesundheitszustand verändert und kann eine Krankheit erkennen, bevor sie wirklich stark ausbricht. Prävention ist der Bereich, wo wir in Zukunft unsere große Unterstützung sehen.  

Muss man auf etwas achten, damit die Gesundheitsdaten korrekt gemessen werden können?

Es ist eine ganz wichtige Identität unseres Unternehmens, dass bei allem, was wir machen, die Einfachheit im Zentrum steht. Das heißt, es muss z.B. auf jeden Fall unabhängig davon sein, wie man auf dem Kissen sitzt. Die Person bekommt quasi gar nicht mit, dass es überhaupt verwendet wird. Das Sitzkissen hat auch kein Benutzer-Interface, keine Knöpfe, kein Display oder ähnliches. Man kann es benutzen wie ein normales Sitzkissen und hat trotzdem die Benefits. Die Informationen können dann entsprechend in einer Smartphone-App bzw. am Computer angeschaut werden.  

Wie bist du auf den Namen „Visseiro“ gekommen – hat er eine Bedeutung?

Wir haben tatsächlich zwei Namen. Zum einen das Produkt, das nennt sich Mino und zum anderen das Unternehmen, das heißt Visseiro. Da wir eine Ausgründung von der Technischen Universität in Berlin sind, haben wir einen sehr technisch motivierten Hintergrund. Visseiro ist das Akronym für die Sensor Technologie, die dahintersteckt.

Der Name des eigentlichen Produkts „Mino“ ist eine Analogie auf den Spitznamen Pirmino, den ich früher hatte. Mino ist die Kurzform davon und soll zeigen, dass ich mich um meine Großeltern kümmere und sie pflege, genau wie dieses Sitzkissen es auch tun kann.

Habt ihr zur Gründung direkt das Mino-Sitzkissen auf den Markt gebracht oder seid mit einem anderen Produkt gestartet?

Wir haben Ende 2018 gegründet und hatten zu diesem Zeitpunkt mehrere Ideen in verschiedenste Richtungen. Wir haben vor der Gründung auch mal ausprobiert, diese Technologie in einem Bett für Säuglinge anzuwenden. Gestartet sind wir dann jedoch zunächst mit dieser Technologie für Pflegemöbel-Hersteller, die die Sensorik in das Sitzkissen eines Sessels integriert haben – also quasi B2B. Anfang dieses Jahres haben wir dann aber das Sitzkissen als Stand-Alone-Produkt gelauncht. Man kann es auch schon bekommen, aber es ist noch nicht in einer skalierbaren Version verfügbar, weshalb man aktuell noch individuell anfragt und dann eine persönliche Beratung bekommt.  

Wo wird das Kissen künftig erhältlich sein?

Zukünftig soll das Kissen über verschiedenste Kanäle erhältlich sein, über die man auch pflegeunterstützende Systeme bekommt. Dazu zählen Sanitätshäuser und auch Online-Sanitätshäuser. Aber auch etablierte Pflegemöbel-Hersteller werden das Produkt als Möglichkeit für Upselling mit ins Programm aufnehmen. Demnächst wird man dann auch mehr erfahren.  

Wie bist du 2018 auf die Idee gekommen, dass Visseiro Sitzkissen (Mino) zu entwickeln?

Die Gründungsidee ist zweigeteilt. Wir haben auf der einen Seite diese geniale Sensor Technologie gehabt, mit der wir kontaktlos solche relevanten Informationen aufnehmen können. Damit können wir uns vor allem von den ganzen Wearable Lösungen differenzieren: wir müssen nicht geladen werden, wir müssen nicht getragen werden, wir müssen nicht aktiv verwendet werden.

Zum anderen gab es bei meinem Mitgründer Janek (CFO) einen Pflegefall in der Familie. Da haben wir das Potenzial in der Anwendung erkannt. Wir haben mit dem allerersten Prototyp direkt in seiner Familie Unterstützung geliefert und dann darauf aufgebaut und das Produkt immer weiterentwickelt.

Gab es zu dem Zeitpunkt schon vergleichbare Lösungen?

Natürlich. Unsere Hauptkonkurrenten sind Wearables. Aber auch Smart Textiles – also textile Lösungen, die Vital-Daten messen können – gab es, und wird es in Zukunft noch mehr geben. Bei all diesen Lösungen hat man aber das Problem, dass sie den Alltag verändern. Wenn ein 85-jähriger Senior vom einen auf den anderen Tag eine andere Unterwäsche tragen muss, ist das eine Veränderung, die viele nicht mitmachen. Es gibt Studien, die zeigen, dass pflegebedürftige Personen in nur acht Prozent der Fälle, die Wearables tatsächlich so benutzten, wie es vorgesehen wurde. Der Sessel oder das Sitzkissen sind eine deutlich einfachere Veränderung.

Kannst du uns einen Einblick geben, mit was für Kosten man rechnen muss, wenn man so ein komplexes elektronisches Produkt entwickelt?

Es gibt viele Komponenten, die da mit reinspielen. Wir haben auf der einen Seite Förderprogramme in Anspruch genommen. Und auf der anderen Seite private Investoren, die uns auch mit Know-how beraten, sowohl technisch als auch im Markt.

Die Kosten des Produktes hängen davon ab, was das Produkt können soll, man spricht auch vom Claim.  Je mehr das Produkt kann, desto teurer wird es, sowohl in der Entwicklung, als auch in der Zulassung und Zertifizierung. Wir haben für uns eine Strategie entwickelt, wie wir den Claim mit den Produktzyklen immer weiter steigern, sodass wir als Startup mit einem niedrigen Claim günstig anfangen konnten.

Welches Förderprogramm habt ihr in Anspruch genommen?

Unser erstes Förderprogramm war 2018 das EXIST Programm. Das ist der Gründungsklassiker, der an Universitäten Ausgründungen fördert. Für 12 Monate werden die Gehälter von drei Personen gefördert und man bekommt ein kleines Taschengeld von 30 000 Euro, um Material zu kaufen. Das hat uns sehr geholfen, den ersten Prototypen komplett aufzubauen, die ersten Feldtests zu machen und die ersten Benutzer zu akquirieren.

Worauf setzt ihr im Marketing oder macht ihr da noch nicht viel?

Wir machen aktuell tatsächlich noch nicht so viel. Das hat den Hintergrund, dass wir uns vor allen Dingen auf die B2B-Aktivitäten konzentriert haben und dort einfach Key-Account- Management betrieben haben. Wir Gründer haben direkt mit den Personen gesprochen und sind zu den Pflegemöbel-Herstellern hingegangen. Das eigentliche Marketing wird jetzt durch unser Stand-Alone-Produkt immer relevanter. Sobald das skaliert, werden wir da im Team Kompetenzen aufbauen. Ansonsten haben wir auch schon mit Freelancern zusammengearbeitet, z.B. für Designs oder unser User Interface.

Was waren seit der Gründung besondere Meilensteine für dich?

Die ersten Benutzer, die ersten Kunden und das erste Pflegeheim, wo das Produkt in der Anwendung war. Das waren z.B. tolle Meilensteine. Wir haben hier eine große Karte an der Wand hängen, wo wir Pinnnadeln reingesteckt haben. So kann man sehen, an welchen Orten gerade ein Sitzkissen in Benutzung ist. Das ist genial, wenn man hinschaut und wieder eine neue Pinnnadel in der Wand ist.

Ihr habt die Visseiro Technologie auch patentieren lassen – kannst du uns einen Einblick geben, wie so eine Patentanmeldung abläuft?

Ja, wir haben uns die Möglichkeit, wie diese Sensoren in dem Sitzkissen integriert sind, patentieren lassen. Auch für die Patentanmeldung gibt es ein wunderbares Förderprogramm. Das heißt Wipano und fördert 50% der Kosten. An sich ist eine Patentanmeldung verhältnismäßig günstig. Der teurere Teil ist die Prüfung des Patentes und der Moment, wenn man das internationalisieren möchte. Typischerweise meldet man das Patent erstmal in einem Land an. Dann kann man eine sogenannte PCT Anmeldung machen, womit man sich nochmal zwei Jahre das Recht darauf sichert, das auch in anderen Ländern anmelden zu können. Die kostet so ungefähr 2000 Euro. Aber sobald diese zwei Jahre ablaufen und man sich für Länder entscheiden muss, wird es teuer. Dann hat man auch nochmal circa 2000 Euro pro Land.

Plant ihr für die Zukunft bereits weitere Produkte zur Überwachung von Gesundheitsdaten oder vielleicht auch ganz andere Produkte?

Ja, das definitiv. Also zum einen planen wir, das Produkt in andere Bereiche zubringen. Das heißt, überall wo man sitzt. Sei es auf einem Bürostuhl, sei es im Auto, sei es im Wartezimmer beim Arzt. Da gibt es diverse Möglichkeiten, allein das noch weiter auszuschöpfen.

Und der andere Bereich ist die Weiterentwicklung unserer Technologie, unter anderem dass wir im Analyse-Bereich noch mehr Informationen einbinden, also Daten, die unter Umständen schon aus anderen Quellen verfügbar sind.

Habt ihr noch weitere Ziele für die nächsten fünf Jahre?

Medizinprodukt werden! Ende 2022 werden wir ein Medizinprodukt sein und das eröffnet uns nochmal komplett andere Möglichkeiten für das Produkt. Und das andere große Ziel ist, dass wir Emotionen auch mit unseren Informationen und Daten erkennen können. Also nicht nur in Richtung Krankheit, sondern noch mehr auch in Richtung soziale Gesundheit gehen können.

Was sind deine besten Tipps für Startup Gründer?  

Tipp 1: Stelle Personal ein, was besser ist als du selbst. Denn diese Personen sind die, die dir und dem Unternehmen tatsächlich helfen können.  

Tipp 2: Traue nie EINEM Experten! Höre auf Experten, nimm diese Informationen mit in dein Daily Business und berücksichtige sie, aber setze nie alles auf einen Experten.

Tipp 3: „It´s not not your job” Das ist eine wichtige Regel bei uns im Startup. Wir sind ein kleines Team und da muss man auch einfach unliebsame Aufgaben bearbeiten. Und wenn man eine Grundeinstellung hat „Es ist nie nicht meine Aufgabe, sondern ich bin immer irgendwie verantwortlich“, dann macht es vieles einfacher.

Tipp 4: Das Netzwerk ist die wertvollste Ressource, die man sich während der ersten Gründungsmonate und -jahre aufbaut. Denn dieses Netzwerk wird einem später immer weiterhelfen. Vernetzt euch auch gern auf LinkedIn mit mir!

Tipp 5: “Don’t be optimistic, but use opportunities”. Bei guten Möglichkeiten sollte man sich immer Fragen: Kann ich die nutzen? Passt die in mein Geschäftsmodell? Bleibe ich meinen Grundprinzipien treu?

Danke Pirmin, dass du dich unseren Fragen gestellt und deine Erfahrungen und Tipps mit uns geteilt hast.

Falls du dir die ganze Podcast-Folge über Visseiro anhören möchtest, freuen wir uns, wenn du auf Spotify oder bei Apple Podcasts reinhörst!

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